Foto: Luiza-Lucia Puiu

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25. November 2022

„Wir reden mehr über Inhaltsstoffe als über Qualität“

Im Interview mit dem SZ-Magazin spricht Hanni Rützler über den sinkenden Fleischkonsum und warum wir wieder lernen müssen zu genießen.

SZ-Magazin: Der Schriftsteller Jonathan Safran Foer schreibt in seinen Büchern »Tiere essen« und »Wir sind das Klima« gegen den Fleischkonsum an. Er prophezeit, dass die meisten Deutschen in fünf Jahren Vegetarier sind. Hat er Recht?


Hanni Rützler: Ich glaube nicht, schon gar nicht in nur fünf Jahren. Wir werden alle lernen, mit weniger Fleisch auszukommen und bewusster auszuwählen, was wir kaufen und essen. In manchen Gesellschaftsschichten ist diese Entwicklung sehr rasant, in anderen geht es sehr langsam. Im ländlichen, bäuerlichen Raum löst die Fleischdebatte mitunter große Ängste aus. Schließlich geht es da auch um Existenzen.

Essen Sie noch Fleisch?


Ja, ich esse selten, aber sehr bewusst Fleisch und würde mich daher als »reflektierte Flexitarierin« bezeichnen.

Viele verzichten inzwischen aus gesundheitlichen Gründen ganz auf Fleisch. Generell sind viele beim Essen von dem Gedanken getrieben, nichts falsch zu machen. Man greift im Laden zu »Superfoods«, also besonders nährstoffreichen Lebensmitteln, oder zu »Brainfood«, also Produkten, mit denen man das Gehirn unterstützt. Und wenn man meint, über die Stränge geschlagen zu haben, macht man Detox. Was sagt das alles über unsere Gesellschaft aus?


Gerade in Krisenzeiten haben wir das Gefühl, die Welt um uns herum nicht mehr kontrollieren zu können, also wird unsere Gesundheit zu einem Feld, wo wir Perfektionismus an den Tag legen können. Wir lassen bewusst Zusatzstoffe weg, weil wir uns als sensible, reflektierte Esser verstehen. Das Problem daran: Wir reden am Esstisch mehr über Probleme und abstrakte Inhaltsstoffe als über die Qualität der Produkte, die wir essen. Unsere Kinder nehmen diesen Fokus auf Probleme auf, bevor sie das Genießen lernen.

Auch die Klage über Intoleranzen und Unverträglichkeit hat zugenommen, sei es Laktose, Gluten oder Fruktose. Ist die gefühlte oder tatsächliche Zunahme an Lebensmittelunverträglichkeiten auch eine Ausformung dieses Perfektionismus?


Das ist für mich eine historisch gewachsene Welle. Begonnen hat es in den 60er Jahren mit dem Kalorienzählen. Dann kamen die ersten Light-Produkte, die fettarmen Produkte, die zuckerreduzierten Produkte. All diese Ernährungsempfehlungen kamen aus der Vorsorge-Medizin. Die Kritik an Zusatzstoffen aber ging erstmals von den Kunden aus, die nicht mehr verstanden haben, warum all das im Essen sein soll. Und diesem Wunsch nach »clean food« wurde entsprochen: Erste »free from« Produkte waren die Folge. Kurz darauf kam EU-weit die Allergenkennzeichnung. Ab diesen Zeitpunkt mussten alle Produkte gekennzeichnet werden, die potenzielle Allergene enthalten. Plötzlich ging es viel leichter zu überlegen: Was tut mir gut? Was nicht? Ich fand das begrüßenswert.

Was einen angesichts des Strebens nach Perfektion wundert, sind die Essenstrends, die bei Jugendlichen beliebt sind, süße Getränke wie Bubble Tea, oder der aus Kanada stammende Imbiss Poutine, also Pommes mit Käse und Bratensauce.

Es gibt immer wieder sogenannte »bad-taste-hypes«, und manche sind sicherlich auch eine Abgrenzung gegenüber dem Ernährungsperfektionismus. Es ist ja das gute Recht der Jugend zu fragen »Wer oder wie anders will ich sein?« Abgesehen davon stellen Jugendliche aber heute viel mehr ethische Fragen ans Essen. Meine Generation hat anders aufs Essen geschaut, da spielte Nachhaltigkeit keine Rolle. Heute fragen immer mehr Menschen: Welche Auswirkungen hat mein Essen auf unseren Planenten?

Sternekoch Holger Stromberg hat jüngst ein Buch über klimafreundliche Küche geschrieben, er sagt: »Jeder kann etwas für eine bessere Welt tun. Das fängt bei der richtigen Ernährung an.« Essen wir künftig weniger für uns selbst als für den Planeten?


Noch gibt es da zwei Pole in der Gesellschaft: Auf der einen Seite haben wir ein sehr individualisiertes Gesundheitsverständnis, wir zählen unsere Schritte, analysieren unseren persönlichen Nährstoffbedarf. Auf der anderen Seite steht das Thema Nachhaltigkeit, sozusagen die Erweiterung des Gesundheitsbegriffs auf die Gesundheit des Planeten. Vor allem im protestantisch geprägten nordeuropäischen Raum werden die ethischen Aspekte unseres Essens stärker rational diskutiert als im Süden. In den katholisch geprägten Ländern wie Spanien oder Italien geht es mehr um den Genuss, die Rituale und die Qualität der Produkte. Aber auch hier wird das Thema Nachhaltigkeit wichtiger werden.

Also ist ein regelrechter Wertewandel im Gang?


Absolut. Es geht um eine Neudefinition von gutem und schlechtem Essen, nicht nur im gustatorischen, sondern auch im ethischen Sinn. Wie wollen wir Tiere halten? Darf ich Tiere töten?

Hanni Rützler erforscht seit über 25 Jahren den Wandel unserer Esskultur. Ihr jährlich erscheinender Food Report hilft Unternehmen kuzfristige Hypes von nachhaltigen Trends zu unterscheiden. – Foto:futurefoodstudio

 

Es wird vor allem debattiert, was wir nicht mehr essen sollten. Der Philosoph Robert Pfaller vertritt den Standpunkt, Genuss, der verzichtet, sei kein Genuss mehr.


Wenn wir nur Verlustängste schüren, nehmen wir das natürlich so wahr. Ich glaube, es wird aktuell neu verhandelt, was Genuss ist. Gerade die jüngere Generation geht sehr offen an diese Frage heran. Sie will essen, was gut, nachhaltig und gesund ist – das heißt auch, dass vieles nicht mehr gegessen wird, was diesen Kriterien nicht entspricht. Aber das, was übrigbleibt, muss dann wirklich gute Qualität haben. Ich finde spannend, wie sich die Sterne-Küche des Themas der vegetarischen und veganen Küche angenommen hat. Das ist dringend notwendig. Uns fehlt bisher die Fantasie, was wir essen, wenn wir Fleisch aus dieser jahrzehntelang etablierten Pole-Position nehmen. Fleischkonsum zu reduzieren, kann nicht heißen, nur noch Beilagen zu essen.

Sondern Fleischersatz?


Ich mag den Begriff nicht. Im Englischen spricht man von »plant-based«, das ist deutlich offener und schließt auch Speisen ein, die nichts »ersetzen« wollen, sondern per se kulinarisch überzeugen. Im Moment ist das der innovativste Bereich der Lebensmittelproduktion. Jeder, der diese Produkte vor ein paar Jahren probiert hat, sollte das auf jeden Fall wiederholen, da hat sich irre viel getan. In Konsistenz und Geschmack sind manche Produkte inzwischen sehr nah am Original. Am Anfang habe ich gedacht, das sind bloß Übergangsprodukte, aber in dem Tempo, in dem sie sich entwickeln, könnte ich mir gut vorstellen, dass sich Lebensmittel etablieren, die nicht mehr nur Kopien sind, sondern eigene Produktwelten entstehen lassen, wie wir das aktuell auch bei Milchalternativen beobachten.

Auch dieses Thema ist in manchen Gesellschaftsgruppen sehr präsent, in anderen gar nicht. Bleiben Ernährungstrends zwangsläufig auf bestimmte Milieus beschränkt?


Es sind tendenziell städtische, jüngere Phänomene. In der Stadt finden sich Gleichgesinnte leichter, man probiert vielleicht schneller was aus. Es gibt viele Einflüsse, die das eigene Essverhalten prägen, Bildung, der Arbeitsplatz, der Freundeskreis, die Internetblase, Reisen… Auf dem Land, insbesondere in bäuerlich geprägten Gegenden, ist man gegenüber Food-Innovationen nicht so offen. Das hat auch damit zu tun, dass Landwirte sich als Traditionsträger verstehen und Fleisch- und Milchersatzprodukte als Bedrohung ihrer Betriebe und Produkte sehen.

Wie wichtig ist unsere Esskultur für unsere Identität?


In den vergangenen Jahren wurde Essen immer stärker Ausdruck der eigenen Individualität. Wir leben im Lebensmittelüberfluss, das heißt auch, wir lernen zu wählen und fragen uns: Wer bin ich, oder wer will ich sein? Wenn ich kein Fleisch mehr esse, keinen Weizen oder intervallfaste, dann ist das auch eine Ausdrucksform beispielsweise dafür, dass wir nicht irgendwas in uns hineinschmeißen und der Preis regiert, sondern dass wir bewusst entscheiden.

Sorgt die Individualisierung der Geschmäcker auch für eine Vereinzelung beim Essen? Doris Dörrie sorgt sich in ihrem Buch »Die Welt auf dem Teller« darum, dass wir immer weniger in großer Runde gemeinsam essen, anders als zum Beispiel in Spanien und Italien – und uns das weniger tolerant macht, weil wir uns weniger erzählen und gegenseitig zuhören.


Da ist schon was dran. In Südeuropa ist gemeinsames Genießen kulturell stärker verankert. Aber auch dort haben sich die Haushaltsgrößen massiv verändert. Es gibt mehr kleinere Haushalte, und die kochen seltener, weniger warm, eher schnelle Küche. Das sind mächtige Einflussfaktoren. Essen hat das riesige Potential der Vergemeinschaftung. Das kann man kulturell fördern, durch Markthallen oder Wochenmärkte. In Street-Food-Märkten wird nach meiner Erfahrung viel kommuniziert, man unterhält sich durchaus untereinander, tauscht Genusserfahrungen aus, gibt Einkaufstipps. Es bilden sich bei aller Vereinzelung auch neue soziale Gemeinschaften entlang spezifischer kulinarischer Vorlieben.

Soziale Unterschiede prägen das Essverhalten ebenfalls. Am Ende entscheidet doch oft der Preis, welche Lebensmittel wir kaufen.


Ja, in Deutschland gehört die alltägliche Diskussion über den Preis von Lebensmitteln und Speisen fast zum guten Ton. Das hat mich als Österreicherin am Anfang etwas irritiert. Ich möchte einen guten Kaffee kaufen und nicht vor allem einen möglichst billigen. Ich finde, die Kunden, aber auch die Supermärkte müssten da mehr Verantwortung für ihre Auswahl und die Folgen übernehmen.

Inwiefern?


Der Supermarkt hat im Moment den Anspruch, für alle alles zu bieten – mit dieser Strategie können sie nicht nachhaltiger werden. Der Handel muss mehr kuratieren: Er muss entscheiden, welche Produktqualitäten er fördern will und welche nicht. Das ließe sich dann durch die Platzierung der Produkte oder über den Preis steuern. Ich kann mir vorstellen, dass die Supermärkte in Zukunft stärker unter Druck geraten, auch von Seiten der NGO’s.

Unter Druck geriet der Handel zuletzt auch durch die Pandemie und jüngst den Krieg in der Ukraine. Wie beeinflussen diese Krisen unsere Ernährungskultur?


Die Erkenntnis, dass wir nicht immer alles just in time haben können, war für viele ein böses Erwachen. Wir müssen uns aktuell dringend überlegen, welche Produktionen wir innerhalb der nationalen Grenzen oder der EU brauchen. Es geht darum, den globalen Lebensmittelhandel neu zu ordnen und gleichzeitig die Regionalisierung weiter voranzutreiben. Hohe Energiepreise könnten dabei auch eine Chance sein, zu lernen, mit unseren Ressourcen besser umzugehen. Wir schmeißen schließlich immer noch ein Drittel unserer Lebensmittel weg. Die Energiekrise zeigt noch eine spannende Entwicklung: Weil die Kosten auch im Bereich der Spritz-, Futter- und Düngemittel steigen, nähert sich der Preis zwischen Bio- und konventionellen Produkten an. Bio-Lebensmittel bleiben auch preisstabiler, weil für ihre Produktion weniger Energie nötig ist.

Alle paar Jahre taucht in den Medien das Thema Insekten als Nahrungsmittel auf, als Proteinquelle der Zukunft. Als Trendforscherin muss ich Sie das natürlich fragen: Setzen sich Insekten durch?


Weltweit gesehen wären Insekten ein sehr mächtiger Hebel, um Nahrungsmangel zu beheben und als Futtermittel zu dienen. Es gibt über 1400 Arten, die essbar sind. Aber hier in Europa sind essbare Insekten von Markt und Medien eher als Grusel-Thema vorgeführt worden. Die EU hat die Zulassung erst sehr spät ermöglicht und lange nur erlaubt, das ganze Tier auf den Markt zu bringen. Das hat den Grusel-Effekt unterstützt. Inzwischen sind auch verarbeitete, sensorisch spannende Produkte auf den Markt, aber sie tun sich schwer, aus dieser Ecke wieder rauszukommen. Aber neben Insekten gibt es weitere vielversprechende Ansätze, die noch erforscht werden. Algen zum Beispiel oder Pilze.

Insekten-Burger des österreichischen Startups ZIRP sind in ausgewählten Supermärkten der REWE-Gruppe erhältlich. – Foto: ZIRP-Insects, Raphael Just

 

Wir haben über Fleisch, Insekten, Bad-Taste-Hypes gesprochen: Welche Ernährungstrends nehmen Sie noch wahr?


Ein Trend in der Landwirtschaft, der mir viel Spaß Freude macht, sind »local exotics«. Meist sind es Quereinsteiger oder junge Bauern, die schauen, was in Anbetracht des Klimawandels in der Region wachsen kann. Sie pflanzen dann Erdnüsse an, weil sie sagen, für Mais reicht das Wasser nicht mehr. So werden in unseren Breitengraden inzwischen sehr erfolgreich Artischocken, Reis, Quinoa oder auch Ingwer angebaut. Immer wichtiger wird dabei auch der Blick auf die Bodenfruchtbarkeit. Wir denken immer noch, wir können anbauen, was wir wollen, wenn wir nur genug düngen, wächst schon etwas. Aber auch da kommen wir an unsere Grenzen. Immer mehr Bauern achten deshalb auf die Regeneration ihrer Böden, auf den Erhalt der Biodiversität. Das fängt mit so kleinen Schritten wie bienen- oder insektenfreundlicher Landwirtschaft an – dieser Trend heißt »regenerative food«.

Gehen Food Trends grundsätzlich in die richtige Richtung, also hin zum besseren?


Für mich sind Food Trends immer als Antworten auf aktuelle Wünsche, Probleme und Sehnsüchte zu verstehen. Die Dynamik des Wandels sichtbar und verständlich zu machen, ist der Kern meiner Arbeit.

 

Das Interview mit Maria Sprenger ist am 16.November 2022 im Magazin der Süddeutschen Zeitung erschienen.

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