Foto: Luiza-Lucia Puiu

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30. April 2022

„Mehr als Wasabi aus Europa“

Dorothee Neururer hat für das Wissenschaftsmagazin Heureka mit Hanni Rützler über den Foodreport 2022 und die Veränderung unseres Konsumverhaltens durch die Pandemie gesprochen.

WIEN. Fragt man Hanni Rützler, ob sie als Food-Trend-Forscherin den schönsten Beruf der Welt habe, ist ihre Antwort ein herzliches Lachen. Sie hat sich diesen Beruf selbst geschaffen und dabei eine Art Ernährungssoziologie entwickelt. Schon seit Jahrzehnten fasziniert sie das Reflektieren über Lebensmittel, Nahrungskreisläufe und die Kultur des Essens. Heute gilt sie als Pionierin auf diesem Gebiet.
Wer in ihrem aktuellen Food-Report 2022 auf Empfehlungen für bestimmte Lebensmittel oder eine ultimative Trendernährung hofft, wird enttäuscht. Sie schreibt über globale Megatrends wie Ernährungssicherheit, den Erhalt der Biodiversität oder Food Waste, die die Lebensmittelbranche auf allen Ebenen durchziehen und bis in unseren Alltag hinein prägen, was und wie wir essen. Forschung und neue Technologien rücken dabei immer näher mit der traditionellen Kulinarik zusammen. Das setzt neue Maßstäbe für die Zukunft unserer Ernährungsgewohnheiten. Corona hat all dies beschleunigt und verstärkt.

The New Normal: Ein neues Werteparadigma beim Essen
Laut Rützlers Ernährungsreport essen wir in Zukunft nicht nur für den Gaumen oder unsere Gesundheit sowie ein gutes Gewissen. Künftig essen wir für die Gesundheit des ganzen Planeten und die Ernährungssicherheit künftiger Generationen. Weg vom Ich hin zum Wir, einschließlich der Natur, verlangt ein neues Werteparadigma. Das bedeutet ganzheitliche, soziale und ökologische Nachhaltigkeit, Genuss und Wohlbefinden. Den passenden Speiseplan haben Wissenschaftler der EAT-Lancet-Kommission in der Planetary Health Diet schon berechnet.
Auch das Verständnis von Gesundheit greift weiter als die reine Optimierung durch bestimmte Nährstoffe. Im Food-Well-Being-Konzept werden emotionale, soziale, psychische und spirituelle Aspekte eingeschlossen. In ihrem Report kategorisiert die Lebensmittelsoziologin die Trends der vergangenen Jahre unter den Schlagworten Beyond Plastic, Transparency, Biodiversity, Plant Based.

Shrimps und Kurkuma aus der Region: Local Exotics
Regionale Lebensmittel, das Gute und Gesunde aus der Umgebung haben uns nicht nur satt gemacht, sondern während der Lockdown-Isolation auch Nähe und Verbundenheit vermittelt. Dabei sind neue „Locals“ entstanden: Neben saisonalem Obst und Gemüse kann man inzwischen auch exotische Produkte kaufen, die bisher nicht in unsere Breiten angebaut wurden.
Etwa Reis aus Österreich, der als Trockenreis angebaut, geerntet, in eigener Reismühle geschält und poliert wird. Dazu Kurkuma, Gojibeeren und Ingwer aus Österreich, Deutschland und der Schweiz. Quinoa kommt nicht mehr nur aus Lateinamerika und Wasabi nicht mehr nur aus Japan, sondern auch aus Europa.
Diese Local Exotics werden von Bauern in ihren Regionen mit viel Einsatz und Risikobereitschaft als zusätzliches Standbein angebaut, mit der Absicht, die heimische Produktpalette zu erweitern und so die Landwirtschaft zu stützen. Dabei erfüllen gleich mehrere Kriterien das neue Werteparadigma: Sie sind frisch, gesund und dank kurzer Transportwege nachhaltig produziert. Technologieaffine Jungunternehmer*innen in Tirol, Bayern oder dem Kanton Schaffhausen züchten heute Shrimps oder Alpengarnelen mit nachhaltigen Energiekonzepten. Für die Ökobilanz ihrer Produkte ernten sie Innovations-und Nachhaltigkeitspreise.
Auch regionale Hülsenfrüchte wie die Ackerbohne oder die Berglinse, bisher nur auf einem Bruchteil der hiesigen Ackerfläche angebaut, werden als nachhaltige und proteinreiche Alternativen zu Soja aus Lateinamerika und Asien wiederentdeckt. Diese Local Exotics sollen die globale Abhängigkeit reduzieren, zu einer regional besseren Ökobilanz führen.

T-Shirts aus saurer Milch – die Zero-Waste-Strategie 2.0
Im neuen Werteparadigma haben Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft eine besondere Bedeutung und ein neues Niveau erreicht. Längst geht es nicht mehr nur darum, etwas aus dem Unverpackt-Laden im Stoffsackerl nach Hause zu tragen. Abfallvermeidung und Kreislaufwirtschaft bedeuten, dass die Nachhaltigkeit im gesamten Herstellungsprozess gewährleistet sein muss. In diesem Zusammenhang stellt Food Waste eines der drängendsten Probleme dar. Allein in der EU landen pro Jahr 88 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll, nachdem sie CO2-Emissionen, Biodiversitätsverlust sowie Land-und Wasserverbrauch verursacht haben.
Die Food-Branche sucht auf verschiedenen Ebenen nach Lösungen für diese Probleme. So sollen klimaneutrale und plastikfreie Biokisten direkt zu den Kund*innen kommen, übrig gebliebene Lebensmittel und Speisen per App einer Verwertung zugeführt werden und Take-away-Anbieter Bring-back-Lösungen statt Kunststoffverpackungen anbieten. Und wenn schon Verpackung, dann umweltfreundliche Alternativen aus Zuckerrohr, Stärke oder Bambus.
Auf Produktebene entstehen aus Gemüseüberschüssen mit 3-D-Druckern Snacks, aus altem Brot wird das erste ökologisch zertifizierte Zero-Waste-Bier gebraut. Als zukunftsweisendes Upcycling gilt etwa, wenn vergorene Milch zur Produktion von T-Shirts eingesetzt wird. Pro Jahr werden etwa in Deutschland 1,9 Millionen Tonnen Milch entsorgt. Da sind einige T-Shirt-Kollektionen drin. Durch die steigende Nachfrage nach fair produzierter und natürlicher Mode hat die Bekleidungsbranche die Kaseinfaser als ökologische Alternative zu Baumwolle entdeckt.

Real Omnivores – statt Veganer versus Fleischesser?
Über den Fleischverzehr führen Karnivoren, Flexitarier und Veganer eine hitzige Debatte. Die „Real Omnivores“ der jüngeren Generation könnten das Potenzial haben, das Schisma bei der Fleischfrage zu überwinden. Ausgewogen, mit Vernunft und Maß, offen für Food-Tech und sich der sozialen, ökologischen Nachhaltigkeitsaspekte bewusst, essen die Real Omnivores alles, was Genuss bereitet und die Probleme des Welternährungssystems verringert. Fleisch „From Nose to Tail“ und Milchprodukte aus Bio-Haltung, aber auch deren Plant Based und Cultured Alternativen sollen das leisten. Herkömmliches Getreide, aber auch die Pseudogetreide Quinoa, Buchweizen und Amaranth, Algen, Nüsse und Pilze sowie Insekten dienen als Proteinquelle. Real Omnivores achten auf Vielfalt. Undogmatisch und pragmatisch zeigen sie, was beim Essen alles möglich und nachhaltig ist -natürlich ohne Verzicht.

E-Food – statt Lieferdienst, Community und Partizipation
Die Digitalisierung ermöglicht neue Vertriebskanäle und Bestellservices. Die Food-Delivery-Branche hat während Corona enorme Wachstumsraten erzielt und neue Businessmodelle entwickelt. Darüber hinaus gibt es ein soziokulturelles Phänomen: E-Food als Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeit über die Nahrung als Teil unserer sozialen Bedürfnisse. Communities zu gemeinsamem Kochen und Backen werden wichtiger. Nicht nur zum Austausch von Rezepten. Sie inspirieren zum Ausprobieren und zu sozialem Austausch. Food-Sharing-Plattformen verwerten nicht nur Lebensmittel, sondern sind auch Ausdruck einer Wertegemeinschaft. Während man in Gesellschaft Käse, Wein oder Schokolade im Wohnzimmer genießt, wird zugleich auch mit einem Käsemeister, Sommelier und Chocolatier online gechattet.
Es sind Mitmach- und Verbraucherinitiativen entstanden, etwa „C’est qui le Patron?!“ in Frankreich oder „Du bist hier der Chef“ in Deutschland. Sie wollen mit verändertem Konsumverhalten und neuen Verkaufskanälen die Landwirtschaft nachhaltig beeinflussen. Onlineplattformen ermöglichen es den Konsument*innen und Produzent*innen, Produkte und Preise gemeinsam zu gestalten und die direkte Verantwortung für eine Kaufentscheidung einzugehen. E-Food bedeutet so im Rahmen des neuen Werteparadigmas Nähe, Vertrauen und Partizipation.

QUELLE: Heureka – Das Wissenschaftsmagazin aus dem Falter Verlag #1/2022 (27.04.2022)

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