Foto: Nicole Heiling


"Kochen hat etwas Magisches. Die Magie entsteht, wenn aus etwas Rohem etwas Zubereitetes wird." (Hanni Rützler)

22. Januar 2021

„Fleisch war etwas Rares, Edles und Teures“

Im Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung spricht Hanni Rützler über die vegane Welle und warum Männer die Küche erobert haben.

Frau Rützler, was haben Sie gestern gegessen?
Es gab Bio-Ente, ganz hervorragend, mit Orangen und Kartoffelpüree . . . (Schaut sich ihre Handybilder an.) Ja genau, Rübchen und rote Rüben noch dazu.

Sie fotografieren Ihr Essen?
Schon seit Jahrzehnten. Ich dokumentiere es für mich. Es ist immer wieder spannend, zu sehen, wie sich die Art der Präsentation, die Rezeptur und die Portionsgrössen auch in meinem Alltag über die Zeit verändern.

Ich habe gestern ein Risotto gekocht, vorgestern bestellte ich via App beim Koreaner. Liege ich damit im Trend?
Dass Männer kochen, ist ein jüngeres Phänomen. Auch bei uns kocht vor allem mein Mann. Und ja, Sie sind damit definitiv im Trend. Risotto ist wie Spaghetti Teil unserer Esskultur geworden. Dass Sie beim Koreaner bestellt haben, ist ebenfalls fast schon Standard, zumindest, wenn Sie in einer grösseren Stadt wohnen. Es ist dies die neue urbane Normalität, dass wir zwischen den verschiedenen Küchen wählen können und uns sehr entspannt zwischen den globalen Esskulturen hin und her bewegen.

Sie beobachten Food-Trends seit über zwanzig Jahren. Worüber wurde in den 1990er Jahren diskutiert?
Damals war unser Alltagsessen noch viel stärker von Traditionen und sozialen Milieus geprägt. So konnte man anhand des Fleischkonsums ziemlich treffsicher erraten, woher die Menschen kamen, welches Geschlecht sie hatten und was ihr Beruf war: Leitende Angestellte in der Stadt assen beispielsweise mehr Schinken und Kalbfleisch als die Bauern auf dem Lande. Das ist heute nicht mehr so, auch weil Fleischessen kein soziales Distinktionsmittel mehr ist.

Ist Fleisch für uns zu selbstverständlich geworden?
Fleisch war während Jahrhunderten etwas Rares, Edles und Teures. Bis in die 1970er Jahre war es für viele eine Sonntags- oder Festtagsspeise, dann wurde es rasch zu einer Alltagsspeise. Inzwischen ist Fleisch so günstig, dass es – mit Blick auf die Haltungs- und die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie – schon fast unappetitlich ist. Als Reaktion auf diesen Überfluss an billigem, ethisch, ökologisch und gesundheitlich problematischem Fleisch ist die vegetarische und später auch die vegane Bewegung immer stärker geworden.

Was war nochmals mit kochenden Männern?
Noch vor 25 Jahren waren Männer in der Küche sehr exotisch. Im Sommer den Grill anschmeissen – ja. Am Wochenende den Braten aufschneiden – ja. Aber das war es dann auch schon. Auch dieses Rollenbild hat sich mittlerweile aufgelöst.

Wie ist das passiert?
Das hat mit dem gestiegenen Wohlstand zu tun. Immer mehr Haushalte mussten und müssen nicht mehr selber kochen, um zu überleben. Sondern man kocht, um gut zu leben. Es ist möglich, spontan und entspannt auch unter der Woche ins Restaurant zu gehen, sich in Kantinen und mit immer vielfältigeren Imbissangeboten zu verköstigen. In dem Moment, in dem man nur noch kocht, wenn man will, verändert sich die ganze Art und Weise, wie man das Kochen angeht.

Und hier kommen die Männer ins Spiel?
Ja, ohne Notwendigkeit wird Kochen schnell zum Medium der Selbstdarstellung, zu einem kreativen Hobby. Nicht zu unterschätzen war dabei auch die Rolle von Jamie Oliver. Es war zwar eigenartig, dass ausgerechnet ein Brite den Festlandeuropäern das Kochen näherbrachte. Aber er zeigte, dass Kochen auch für Männer cool sein kann. Man muss nicht Französisch sprechen, um Julienne schneiden zu können – das ist eine spezielle Schneideart für Gemüse. Man kann sich auch mit der Schere an der Petersilie versuchen oder mit der blossen Faust das Kotelett klopfen. Kochen wurde spielerischer, spontaner und kreativer.

Hat sich auch die Art und Weise verändert, wie wir übers Essen reden?
Heute stehen die Qualität der Speisen und Lebensmittel und der Genuss im Vordergrund. Kochen findet analog statt, es ist ein Handwerk und im besten Fall etwas Sinnliches und Kreatives. Es bildet damit einen schönen Kontrast zur digitalisierten Arbeitswelt.

Seit Kochen nicht mehr nur der Versorgung dient, sondern ein Ausdrucksmittel für Individualität und Kreativität ist, stehen immer mehr Männer am Herd. (Foto: Wolfgang Reiter / futurefoodstudio)

Reden darum auch alle übers Essen? Die Ernährung ist inzwischen neben dem Wetter das beliebteste Smalltalk-Thema. Jede und jeder hat eine Meinung.
Die Individualisierung der Gesellschaft zeigt sich auch in der Ernährung. Wir haben – befreit von Mangel, Traditionen und sozialen Normen – die Möglichkeit, zu wählen, wo wir einkaufen, was wir essen und wie wir es zubereiten. Diese Freiheit bedeutet aber auch ein grosses Stück Arbeit. Man muss sich fast täglich aufs Neue fragen: Welche Lebensmittel passen zu mir? Was tut mir gut und was nicht? Was passt zu meinem Lebensstil? Entspricht meine Ernährung meinen Werten?

Eine Folge davon: Wie Unkraut spriessen Food-Blogs aus dem Boden, es gibt Tausende Food-Influencer. Wie kommt das?
Influencer sind Wissensverbreiter, Markenbotschafter und Lifestyle-Guides. Sie brechen komplexe Themen herunter und machen diese leicht verständlich und alltagstauglich.

Viele dieser Influencer haben einen klaren Fokus: vegan, gesund, sportlich.
Das ist in erster Linie eine Generationenfrage. Junge Menschen beschäftigen sich im Ernährungskontext stärker mit Themen wie Tierethik, Klimawandel, Nachhaltigkeit, Gesundheit und Fitness. Auf der Suche nach der eigenen Identität versuchen sie sich auch von ihren Eltern abzugrenzen. Gerade der Veganismus bietet hier einen wirksamen rebellischen Hebel. Und Influencer spiegeln diese Entwicklungen.

Der Trend, zu Hause zu kochen, hat sich im Corona-Jahr akzentuiert. Wieso soll man, sobald der Lockdown beendet ist, überhaupt noch in Restaurants gehen? Es hat dort viele andere Menschen, es ist laut, es ist teuer . . .
Die Corona-Krise hat den Trend, zu Hause zu kochen, tatsächlich extrem beschleunigt. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass das gemeinsame Essen in einem Lokal andere Qualitäten bietet, als wenn man sich zu Hause trifft. In Restaurants wird das öffentliche Leben spürbar: Man zieht sich anders an, man lässt sich vom Koch überraschen, geniesst das Ambiente, den Service, Begegnungen mit anderen Menschen, und so erlebt man das Abendessen als Gesamtkunstwerk völlig anders als am Esstisch zu Hause.

Für Hanni Rützler ist das Restaurant – auch jenseits von Spektakeln – im besten Fall auch ein Erlebnisort, «ein sozialer Kristallisationspunkt». Im Bild: Das Restaurant Dreierlei in Zürich. (Foto: Joël Hunn / NZZ)

Restaurants als Hotspot des Stadtlebens. Reicht das, damit die Leute wiederkommen?
Ja, denn Hotspots zeichnet aus, dass sie sich wandeln, weiterentwickeln, ständig erneuern. Schade finde ich beispielsweise, dass die Küche in vielen traditionellen Beizen noch immer versteckt ist. So kann der Gast gar nicht miterleben, was dort geschieht. Dabei hat Kochen etwas Magisches. Die Magie entsteht, wenn aus etwas Rohem etwas Zubereitetes wird. Das Restaurant ist – auch jenseits von Spektakeln – im besten Fall auch ein Erlebnisort, ein sozialer Kristallisationspunkt. In Zürich fallen mir spontan zwei schöne Beispiele ein: das «Josef» und das «Rosi».

Ein spannendes Phänomen sind auch die Trendprodukte: Fast jedes Jahr gibt es einen Hype um ein neues Lebensmittel. Ich denke da an die Avocado oder den Ingwer . . .
. . . oder Kurkuma. Ja, das sind Hypes. Die Avocado bot alles, was ein erfolgreiches Produkt braucht: Sie ist leicht zu verarbeiten, vielseitig einsetzbar, sie gilt als gesund und hochwertig. Sie ist ebenso Brotaufstrich wie Beilage. Auch der Ingwer bedient diese Bedürfnisse, er war – neben Koriander und Sojasauce – die Speerspitze der asiatischen Küche, die Mitteleuropa erobert hat. Der Ingwer ist inzwischen ein Wunderwuzzi und aus unserer Küche nicht mehr wegzudenken. Und die Sojasauce hat die klassische Maggi-Sauce vielerorts verdrängt.

Und wer bestimmt das?
Die erste Avocadowelle kam aus Kalifornien – ein kulinarischer Hotspot mit vielen It-Restaurants und Instagram-Foodies. Guacamole ist dort Alltagsspeise. Die menschliche Neugierde befördert solche Hypes natürlich, und auch Food-Blogs tragen sicherlich ihren Teil dazu bei, Trends in der Masse zu verbreiten. Echte kulinarische Neuentdeckungen kommen allerdings fast immer von Haubenköchen und -köchinnen aus der Gourmetsparte. Denn neue Produkte und Speisen müssen etwas anders sein und doch gut schmecken. Sie müssen eine passende Geschichte erzählen, und wenn sie auch die Gesundheit unterstützen, haben sie es leichter.

Auch die Avocado wird kritisiert: Sie verbrauche zu viel Wasser und werde um die halbe Welt geflogen.
Ja, das ist interessant. Auch bei der Avocado hat sich eine Gegenbewegung entwickelt. Wer lokal essen will, wird auf die Avocado verzichten.

Ein Trend-Food ist auch der Burger. Früher galt dieser als Inbegriff von ungesund, heute nicht mehr.
Bei den Burgern zeichnet sich sehr schön der Wandel der Fast-Food-Kultur ab: Der Burger galt lange als ungesund, als Junkfood. In der Zwischenzeit ist er fast überall zu finden, sei es in Bars, Beizen oder Sterne-Restaurants. Und es gibt ihn längst auch vegetarisch und vegan.

Fast Food hat einen schlechten Ruf. Zu Recht?
Auch das «schnelle Essen» ist gesünder und vielfältiger geworden. Es gibt viel mehr «plant based»-Produkte, aber sensorisch sind sie oft noch unterkomplex. Nur weil es «schnell» ist, muss es nicht schlecht sein. Auch die Bratwurst beim «Sternen» in Zürich ist Fast Food, und sogar Gourmets wissen sie zu schätzen.

Vor fünf Jahren durfte Hanni Rützler bei einer live übertragenen Präsentation in London in den weltweit ersten In-Vitro-Burger beissen (Sceenhot/BBC)

Soll man im Labor produzierte Burger essen?
Ich durfte vor fünf Jahren bei einer Verkostung in London in den weltweit ersten In-vitro-Burger beissen. Das war aufregend. Immerhin stammten die Bausteine des Burgers aus Muskelzellen. die von einem lebenden Tier gewonnen und anschliessend im Labor vermehrt wurden. Damals dauerte die Produktion des Burgers drei Monate und kostete rund 150 000 Dollar.

Das ist doch verrückt.
Heute forschen an die dreissig Teams weltweit an dem Thema, damit ist die Produktion nicht nur schneller und deutlich günstiger geworden. Der Burger aus dem Labor steht in den USA und in Asien vor der Markteinführung. Dieser Tage wurde in Singapur das erste im Labor gezüchtete Hühnerfleisch offiziell zugelassen. Diese alternative Fleischproduktion in geschlossenen Systemen wird unsere Esskultur in den nächsten zwanzig Jahren nachhaltig mitprägen und verändern.

Ist Fleisch ein Auslaufmodell?
Wir essen weniger Fleisch als vor ein paar Jahren. Wir müssen uns intensiv damit auseinandersetzen, wie wir mit Tieren in Zukunft umgehen wollen. Es sind Lebewesen, die wir respektvoll und nicht bloss wie eine Ware behandeln sollten. Der Fleischkonsum wird in den nächsten Jahrzehnten noch weiter abnehmen. Die junge Generation schiebt hier den Wandel an.

Veganer haben die «guten» Argumente auf ihrer Seite. Sie sagen, wer Fleisch esse, sei vielleicht kein schlechter Mensch, aber er blende das Leid der Tiere völlig aus.
Essen ist immer ein moralisches Dilemma. Wir sind Teil der Natur und brauchen die Natur als Nahrung. Auch Gemüse wird gezogen, nur damit wir es essen können. Der Lösungsansatz der Veganer ist radikal – «ich lasse tierische Produkte komplett weg, dann bin ich auf der sicheren Seite». Damit brechen sie mit einer jahrhundertealten Tradition, vor allem im Alpenraum. Man darf in der ganzen Diskussion nicht vergessen, dass Nutztiere auch jenseits des Verzehrs nützlich sind: Eine Weide ohne Kühe beispielsweise verwildert innert kürzester Zeit. Tierzucht und Milchwirtschaft haben die Kulturlandschaft geprägt, die wir in der Schweiz und in Österreich so schätzen. Und wenn Kühe und Schafe nicht mehr «genutzt» würden, würden sie wohl nur mehr in Zoos überleben.

Braucht es vegane Alternativen in jedem Restaurant?
Es braucht mehr kulinarische Alternativen zu Fleisch, aber vegan ist nicht die Lösung für jedes Restaurant. Wer auf Fleisch setzt, muss das richtig gut und auch nachhaltig machen. Und wer auf vegan setzt, muss auch das richtig gut machen, nicht bloss mit hochverarbeiteten Fertigprodukten. Aber nicht jede Beiz sollte versuchen, immer alle Bedürfnisse zu befriedigen. Es braucht auch Mut zur Lücke und zur Spezialisierung.

Sind Insekten eine Alternative?
Durchaus. Insekten sind ein grosses Zukunftsthema, weltweit. Sie können als hochwertige und nachhaltige tierische Nahrung, aber auch als Futter für Tiere und als Bausteine für Nährstoffe dienen. Durch ihren hohen Gehalt an Proteinen eignen sie sich auch gut als Komponenten einer Ernährungsweise, die auf klassisches Fleisch verzichtet.

Lange nicht mehr war ein Jahr so bewegend wie 2020: Wenn Sie alle Food-Trends der letzten Jahrzehnte überblicken – hatte die Corona-Krise auch Vorteile?
Es gibt Zeiten, in denen wir am Genuss vorbeischlingern und gar nicht wahrnehmen, was wir überhaupt essen. Aber die Pandemie brachte auch Gutes: Der Akt des Essens wurde wieder stärker ritualisiert und entschleunigt. Wir kaufen bewusster ein und legen mehr Wert auf Frische und Qualität. Unser Verhältnis zum öffentlichen Raum, zur Zeit, zur eigenen Verletzlichkeit, aber auch zum eigenen Verbrauch ist im Wandel. Hier entsteht gerade eine neue, bessere Normalität.

Interview:  Reto Stauffacher (17.1.2021)

Quelle: Neue Zürcher Zeitung

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