OUT NOW: Hanni Rützlers FoodReport 2024
HANNI RÜTZLER (Foto: Thomas Kamenar für Zukunftsinstitut)
12. Juni 2023
Die Zukunft von Bio
Zurück zum Ursprung oder vorwärts mit neuen Technologien? Das ist eine der entscheidenden Fragen, die im Zentrum von Hanni Rützlers aktuellem Foodreport stehen.
FRANKFURT. Im Französischen – darauf hat der slowenische Philosoph Slavoj Zizek anfang dieses Jahres in einem Essay in der „Zeit“ hingewiesen – gibt es zwei Wörter für die Zukunft, die sich fast nicht ins Deutsche übersetzen lassen: futur und avenir. „Futur steht für die Fortsetzung der Gegenwart, während avenir auf einen radikalen Bruch verweist, eine Diskontinuität mit der Gegenwart – avenir ist das, was erst noch kommen muss, nicht nur das, was sein wird.“
Wenn wir über die Zukunft von Bio nachdenken, ist es hilfreich sich die beiden Zukunftsbegriffe vor Augen zu halten. In unseren gesellschafts- und umweltpolitischen Diskursen dreht sich – wenn wir sie nicht ganz ausblenden – aktuell alles um das, was sein wird. Und das scheint fast durchwegs auf eine negative Zukunft, auf dystopische Szenerien hinauszulaufen: auf globales ökonomisches und soziales Chaos, eine Klimakatastrophe und den ökologischen Zusammenbruch.
No Future also? „Aber ja: bitte!“, würde Zizek antworten.
No future! – Plus d’avenir!
Sinngemäß treibt der Philosoph sein Gedankenspiel nämlich weiter und schreibt, dass das alte Punk-Motto „No Future“ in seiner Doppeldeutigkeit eigentlich „nicht die Unmöglichkeit eines Wandels (bezeichnet), sondern genau das, was wir anstreben sollten – den Ausbruch aus der Umklammerung, in der die katastrophale Zukunft uns gefangen hält, um dadurch den Raum zu öffnen, in dem etwas Neues ‚kommen‘ kann.“
Und für welche Zukunft steht Bio? Sind die Akteure der biologischen Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion bereit, den Raum zu öffnen, um Neues zu ermöglichen? Oder halten sie an dem Narrativ fest, mit ihrer Produktionsweise zur Vermeidung des ökologischen Zusammenbruchs und des Klimakollaps bereits genug beizutragen?
Bio ist in der Mitte der Gesellschaft gelandet
Jahrzehntelang hat Bio die Lebensmittelqualitätsdebatte angeführt und war damit ein bedeutender Innovator im gesamten Food-Sektor. Heute sind Bioprodukte fixer Bestandteil unseres Alltags. In Europa ist Bio in der Mitte der Gesellschaft gelandet und hat sich den Weg von kleinen Natur- und Reformkostläden längst in die großen Supermärkte gebahnt. Und auch wenn der Anteil an biologisch erzeugten Lebensmitteln sowie an biologisch bewirtschafteten landwirtschaftlichen Flächen immer noch vergleichsweise gering ist: Im Bewusstsein der meisten Menschen hat Bio einen hohen Stellenwert.
„Die zentralen Antonyme, die den aktuellen öffentlichen Diskurs bestimmen, heißen nicht mehr ‚biologisch‘ und ‚konventionell‘, sondern ‚tierfrei‘ oder ‚nicht-tierfrei‘.“ (Hanni Rützler)
Wie aber geht es weiter? Wohin will, wohin soll und kann sich Bio entwickeln? Was sind die neuen Ziele? Welchen Herausforderungen will bzw. muss sich Bio in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stellen? Welche (neuen) Themen will es aufgreifen? Oder geht es vor allem darum, Erreichtes zu verteidigen? Immerhin haben sich die Prioritäten beim bewussten Konsum für viele Konsument:innen in den letzten Jahren tendenziell verschoben. „Natürlich“, „vegan“ und „vegetarisch“, „regional“ und „nachhaltig“ wurden zu Kriterien, die heute vielen wichtiger scheinen als „biologisch“.
Dazu kommt, dass neue biotechnologische Innovationen an einem zentralen Tabu der biologischen Landwirtschaft rütteln und dass auch in der Bio-Szene die Einsicht wächst, dass die Entwicklung eines resilienten Agrarsystems, das die weltweite Ernährungssicherheit garantiert, nur gelingen wird, wenn wir auch die technologischen und mikrobiologischen Innovationen nutzen, die von der Wissenschaft und von kreativen Start-ups auf der ganzen Welt vorangetrieben werden.
„Die kulinarische Zukunft liegt in der Vielfalt. Vielfalt bedeutet global gesehen eine Vielfalt an regional angepassten Produktionsweisen, aber auch eine Vielfalt an alten, neuen sowie wieder zu entdeckenden Nahrungsmittelquellen.“ (Hanni Rützler)
Das ist die vielleicht größte Herausforderung, vor der die biologische Landwirtschaft steht. Denn historisch gesehen war die Beziehung zwischen ökologischer Landwirtschaft und Biotechnologie antagonistisch und führt bei Konsumentinnen, aber auch bei vielen (kleinbäuerlichen) Landwirten bis heute zur Annahme, dass biologisch und biotechnologisch völlig unvereinbar sei. Biotechnologie wird grundsätzlich mit industrieller, rohstoffbasierter Landwirtschaft, mit Monokulturen, intensivem Einsatz von Pestiziden und patentiertem Saatgut in Verbindung gebracht. Sie wird eben nicht als Produktionsverfahren verstanden, dessen Anwendung in Kombination mit digitalen und maschinentechnischen Innovationen auch Biobauern und Kleinbetrieben helfen kann, Pflanzen mit einer höheren klimabedingten Widerstandsfähigkeit und Produktivität zu kultivieren und zugleich die Biodiversität wieder deutlich zu erhöhen.
Bio und Technologie im Einklang
Eines dieser Produktionsverfahren – die CRISPR/cas-Technologie – bietet aus Sicht vieler Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen die Chance, den Antagonismus zwischen biologischer Landwirtschaft und Biotechnologe in naher Zukunft zu überwinden. Sie sei einfach zu implementieren, erschwinglich, und wenn die regulatorischen Hürden überwunden würden, könnte das mithilfe dieser Methode gewonnene Saatgut auch kleinen Betriebe, auf denen in Europa die ökologische Landwirtschaft basiert, ein zukunftstaugliches Wirtschaften ermöglichen. Noch sind – identitätspolitisch durchaus nachvollziehbar – die Widerstände in der Bio-Branche massiv, doch sind inzwischen auch aus der Szene erste wichtige Stimmen zu hören, sich mit der neuen Technologie ohne ideologische Scheuklappen auseinanderzusetzen. Die Zukunft von Bio wird auch davon abhängen, wohin diese Auseinandersetzung führen wird.
Weitere Schwerpunkte im Foodreport 2024:
° Plants for Future: Wie der Klimawandel und die Moralisierung des Essens Pflanzen zur neuen Leitsubstanz der Esskultur machen
° The New Job Normal: Wie der Wandel der Arbeitswelt unser Essen und die Mahlzeitenstrukturen verändert
° The Green Taste of the Future: Wie neue Technologien unseren Geschmack verändern und einen Paradigmenwechsel in der Lebensmittelproduktion ermöglichen
° Food-Trends, auf die Unternehmen achten sollten
Agenda
Nachhaltigkeit – zwischen revolutionär, evolutionär und resilient
15. qualityaustria Lebensmittelforum, wolke19 im Ares Tower, Wien (A) - KEYNOTE & DISKUSSION
Ernährung im Wandel – Trends, Tradition & Innovation
Fachkongress „Über den Tellerrand: Ernährungssysteme mit Zukunft“ - Kompetenzzentrum Ernährung, Konferenzzentrum München (D) - KEYNOTE