Foto: Wolfgang Reiter

Pflanzenbasiertes "Fleisch" findet sich schon jetzt in allen Supermärkten. Und die Fleischalternativen werden immer besser, auch wenn noch viele mediokre Produkte den Markt dominieren.

20. Februar 2024

Die kopernikanische Wende in unserer Esskultur

Wie wir uns in 50 Jahren ernähren werden. Hanni Rützlers Essay für die Zeitschrift "Der Pragmaticus"

Voraussagen soll man unbedingt vermeiden, besonders solche über die Zukunft. Mark Twains Bonmot ist mir eingefallen, als ich gefragt wurde, wie wir uns in fünfzig Jahren ernähren werden. Als Foodtrendforscherin beschäftige ich mich zwar ständig mit der Zukunft, aber primär in überschaubareren Zeiträumen von zehn bis fünfzehn Jahren. Und ich orientiere mich dabei eher an einem anderen Zitat, das einmal Abraham Lincoln, ein anderes Mal Alan Kay oder Peter Drucker zugeschrieben wird: „Die Zukunft ist nicht vorhersehbar, aber sie ist gestaltbar.“
Tatsächlich zeichnet sich heute schon ab, wohin die Reise gehen wird. Unzählige Bio-Tech-Start-ups, private und staatliche Forschungseinrichtungen sowie innovative Unternehmen in der Lebensmittelindustrie, der Landwirtschaft und der Gastronomie geben die Richtung vor. Manches mag noch unrealistisch, als pure Science-Fiction erscheinen, anderes wird sich vielleicht als Sackgasse erweisen. Vieles aber wird sich schneller als erwartet auf unseren Tellern finden – oder ist längst da. Es handelt sich eher um Science-Faction als um Science-Fiction und wird – ob in Form von Produkten, Technologien oder Services – die Foodbranchen in den kommenden Jahren radikal verändern.

In Zukunft wird aus Pflanzen Fleisch
Auch wenn sich heute nur wenige vorstellen können: In fünfzig Jahren werden Pflanzen – ob frisch oder in verarbeiteter Form als Fleischersatz – unseren Essalltag bestimmen. Das werden Pflanzen sein, die zu einem großen Teil nicht auf Äckern, sondern in Indoor-Farmen wachsen werden, und der Konsum von Cultured Meat & Fish wird für unsere Enkel eine Selbstverständlichkeit darstellen. Die Vorboten dieser kulinarischen Zukunft sind schon heute sichtbar: Als ich 2013 in London als Erste einen Burger-Patty aus kultiviertem Fleisch verkosten durfte, gab es nur ein paar Unternehmen, die im Labor versuchsweise Fleischzellen züchteten. Zehn Jahre später sind es weltweit schon weit über hundert, die in den kommenden Jahren die Schwelle zu einer skalierbaren Produktion überschreiten werden.
In Singapur und den USA ist der Vertrieb von kultiviertem Fleisch und Fisch schon erlaubt, in Europa laufen – wenn auch noch zögerlich – die Zulassungsverfahren. Allzu lange sollte es nicht mehr dauern, bis wir Fleisch essen, für das kein Tier mehr sterben muss.

Neue Ernährung: Fleisch aus der Fabrik
Pflanzenbasierte Fleisch-, Milch- und Ei-Alternativen finden sich schon jetzt in allen Supermärkten, jedes Jahr kommen neue Produkte aus Algen und Pilzen auf den Markt, und mit der Präzisionsfermentation eröffnen sich unzählige weitere Optionen, um rekombinante Proteine wachsen zu lassen. Diese konnten bisher nur von tierischen Lebewesen erzeugt werden. Mit der neuen Technik eröffnen sich innovative Möglichkeiten bei der Erzeugung von Fleischersatzprodukten. Selbst in der Spitzengastronomie finden sich immer häufiger vegetarische Speisen als Signature Dishes wieder. Köche entdecken das geschmackliche Potenzial von Pflanzen und stellen die Rolle des Fleisches auf unseren Tellern unwiderruflich infrage.
All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass wir vor einer „kopernikanischen Wende“ unserer Esskultur stehen, vor der größten Transformation unseres Ernährungssystems seit der grünen Revolution. Auch wenn viele Bauern, Hersteller und Händler die Vorboten dieser (R)evolution (noch) nicht wahrnehmen wollen, sie ist bereits im Gange: Der Klimawandel, die wachsende Weltbevölkerung, die Reduktion der für traditionelle Landwirtschaft zur Verfügung stehenden Flächen sowie die Ziele zur Reduktion der Treibhausgasemissionen und nicht zuletzt auch die erhöhte Sensibilität in der Gesellschaft gegenüber dem Tierleid in der industriellen Viehzucht machen diese Wende notwendig.

Die Fantasie kommt beim Essen
So wie wir die Art und Weise der Energieerzeugung ändern, werden wir auch die Lebensmittelproduktion und damit unsere Essgewohnheiten ändern.
Wie Umfragen zeigen, kann sich ein Großteil der Konsumenten heute noch nicht vorstellen, Fleisch aus dem Bioreaktor, Gemüse aus Vertical Farms oder Lebensmittel aus Algen, Insekten und Pilzmyzel zu verspeisen. Doch die Fantasie ist nicht nur beim Essen begrenzt: Im Jahr 1973 führte ein gewisser Martin Cooper das erste Telefonat mit einem Mobiltelefon.
Niemand hätte damals gedacht, dass wir fünfzig Jahre später alle „mobil“ telefonieren werden und kleine, handliche Smartphones unseren gesamten Alltag dominieren. Mit dem Speisezettel in fünfzig Jahren wird es sich vielleicht genauso verhalten.

 

Der Essay ist zuerst am 2.Februar 2024 in der Zeitschrift „Der Pragmaticus“ unter dem Titel „Fleisch aus dem Bioraktor“ erschienen.

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  • Hanni Rützler

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