"Manege frei für kleine Köche": Wenn Kinder zusammen mit Mama oder Papa kochen dürfen, schmeckt alles gleich viel besser – auch Obst und Gemüse, die im neuen Kinderkuch von Holger Stromberg und Gaby Grosser die eigentlichen Stars sind.

Hanni Rützler hat sich in ihrer Laufbahn schon früh mit der Frage beschäftigt, wie Kinder spielerisch essen und gesund genießen lernen. Heute beschäftigt sie sich in erster Linie mit dem Wandel der Esskultur, von dem auch die Kinderernährung massiv betroffen ist.

16. Oktober 2019

Der Familienesstisch im Wandel

Kulinarische Sozialisation findet heute nicht mehr auf der Einbahnstraße statt

MÜNCHEN. Das Familienmahl, so schreibt der deutsche Psychoanalytiker Claus-Dieter Rath, ist „ein – meist unerreichtes – Ideal, eine Bühne, auf der man zu wenig erhält und zugleich zu viel bekommt.“ Ein Ort der Sehnsucht, nach Aufmerksamkeit, Versorgtwerden und Liebe, und zugleich ein Ort der Enttäuschung und des Ärgers: über Ignoranz, Streit, schlechtes Essen und meist auch zu viel Kalorien.

So gesehen könnte man froh sein, dass die gemeinsame Versammlung um den Esstisch heute nicht mehr das zentrale Fundament der Familieneinheit ist. Dass Zuwendung und Liebe nicht mehr primär durch den Magen gehen (wo sie sich ohnehin allzu schnell zu Fett, Eiweiß und Kohlenhydraten verwandeln), sondern auch anders zum Ausdruck kommen können.

Seit Jahren beobachten wir die Erosion der Mahlzeitenstrukturen, die Jahrhunderte lang unseren Alltag gegliedert haben: Frühstück, Mittagessen, Abendbrot. Die Zeiten, in denen sich die Familie bis zu drei Mal täglich am Esstisch für eine gemeinsame Mahlzeit zusammen fand, sind längst vorbei.

(…) Das kann man bedauern oder gar als Verfall der Esskultur und der Tischsitten beklagen, oder als Chance für durchaus positive Veränderungen wahrnehmen. Zum Beispiel wenn die 7-jährige Tochter plötzlich entscheidet, keine Tiere mehr zu essen, und den Papa dazu animiert, doch mal das vegetarische Kochbuch zur Hand zu nehmen, das Oma letztes Jahr unter den Weihnachtsbaum gelegt hat. Und er dabei auch für sich entdeckt, dass ein liebevoll gemeinsam zubereitetes Gericht aus Gemüse und Getreide in Kombination mit frischen Kräutern und Gewürzen deutlich besser schmeckt, als die „Beilagen“, an die er sich aus der Küche seiner Mutter erinnert.

Denn auch beim Essen ist es heute manchmal nicht viel anders als mit neuen Medien und Technologien, wo die Eltern viele Fertigkeiten eher von ihren Kindern lernen als durch das mühsame Studium von Betriebsanleitungen. Kulinarische Sozialisation findet heute eben nicht mehr auf der Einbahnstraße statt. Den Geschmack der Familie prägen nicht mehr nur die Eltern. Und es wird auch nicht mehr gegessen, was auf den Tisch kommt. Sondern auf den Tisch kommt, was – oft in mühsamen Diskussionen – ausgehandelt wurde und den individuellen Vorlieben entgegen kommt. Das heißt aber nicht, dass Eltern die Verantwortung, die sie für die Ernährung vor allem jüngerer Kinder haben, abschieben können. Denn auch Wählen will gelernt sein.

Elterliche Autorität, die früher unwidersprochen bestimmte, was gegessen wird, paart sich heute im Idealfall mit kulinarischer Kreativität, setzt die Rahmenbedingungen und ermöglicht Kindern innerhalb dieser Spielräume ihre eigenen Weg zu finden, der weder von rigiden Ernährungsideologien geprägt ist, noch schnurgerade auf der Junk-Food-Autobahn zurückgelegt wird. Kochbücher, die Eltern dabei unterstützen, gemeinsam mit ihren Kindern diese Spielräume zu erobern und zu beleben, erweisen sich dafür als gute Navigationshilfen (…).

(Auszug aus Hanni Rützlers Beitrag zum aktuellen Kinderkochbuch „Manege frei für kleine Köche!“ von Holger Stromberg und Gaby Grosser, Südwest Verlag, München 2019)

„Manege frei für kleine Köche! Superhelden essen clever“ von Holger Stromberg und Gaby Grosser, München 2019

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