
Die Metasynthese kombiniert biotechnologische Verfahren mit künstlicher Intelligenz, um komplexe biologische Prozesse zu simulieren und zu optimieren. Dies könnte zu einer signifikanten Steigerung der Nahrungsmittelproduktion führen, während gleichzeitig die Umweltbelastung reduziert wird.

Foto: Mosa Meat
Cultured Meat-Pionier Mosa Meat ist Teil eines neuen Konsortiums, das die weltweit erste Farm für kultiviertes Fleisch in den Niederlanden zu errichten plant und damit zeigen will, dass die zelluläre Landwirtschaft auch für die traditionelle Landwirtschaft eine Chance und keine Bedrohung darstellt.
8. Oktober 2025
Das Ernährungssystem als Ganzes neu denken
Große systemische Veränderungen dauern immer länger. Das gilt für die Ernährungswende genauso wie für die Energie- und Mobilitätswende. Sie wird aber nur gelingen, wenn wir Zukunft nicht nur als optimierte Gegenwart denken. Von Hanni Rützler und Wolfgang Reiter
„Zukunft“, schreibt der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han, „öffnet sich zu dem Ereignis hin, das anders ist. Das sich nicht in die Sprache des Gleichen einholen lässt, die die Sprache der Gegenwart ist.“ Zukunft ist der Ort des Anderen, der sich von tradierter Erfahrung und aktuellen Praktiken abhebt. Und doch denken wir Zukunft meist nur als optimierte Gegenwart. Wir wagen das Andere nicht zu denken, weil das Andere immer auch die Kritik des Gegenwärtigen beinhaltet: an unseren Handlungen, unseren Produkten, ja an uns selbst.
Bei der Optimierung unserer Lebensmittelproduktion denken wir zunächst an Kühe, die noch mehr Milch geben, an Weizensorten, die gegen Schädlinge und Trockenheit resistent sind und noch mehr Ertrag liefern, oder an Obst, das länger haltbar und optisch perfekt ist sowie mehr Vitamine enthält.
Was aber könnte das Andere sein, das wir nicht zu denken wagen? Wie klingt die Sprache der Zukunft? Wer spricht sie? Welche neuen Worte verwendet sie? Welche Bilder generiert sie? Und was bedeuten diese?
Wie klingt die Sprache der Zukunft?
Im Zusammenhang mit Ernährung tauchen immer wieder neue Begriffe auf. Begriffe, die nicht mehr von einer optimierten Gegenwart erzählen, Begriffe wie „alternative Proteine“, „zirkuläre Lebensmittelproduktion“, „Präzisionsfermentation“, „Metasynthese“, „zelluläre Landwirtschaft“, „Gen-Editing“ und „Cultured Meat & Fish“. Sie stehen nicht bloß für Verbesserungen des Bestehenden, sondern für ganz neue Ansätze, die das Potenzial haben, unser Food-System grundlegend zu verändern, um angesichts von Klimawandel und Bevölkerungswachstum auch in Zukunft globale Ernährungssicherheit mithilfe nachhaltiger Produktionsweisen zu ermöglichen.
Das Andere denken heißt, das Ernährungssystem als Ganzes neu zu denken. Nicht nur an der Verbesserung einzelner Produkte zu tüfteln. Denn viele Herausforderungen, denen wir uns heute und morgen stellen müssen, erfordern andere Innovationen, die das Food-System als Ganzes betreffen, nicht nur einzelne Teile.
Erst wenn wir das ganze Bild betrachten und den neuen Begriffen in diesem Bild ausreichend Raum geben, wird sichtbar, welche neuen Spielräume entstehen, welches Potenzial sich nicht nur für die Lebensmittelproduktion, sondern auch für die Landnutzung, für die globale Ernährungssicherheit, Biodiversität, Treibhausgasreduktion, Erholung der Meere etc. eröffnet. Dann begreifen wir, dass wir am Beginn eines Wandels stehen, der vergleichbar ist mit der neolithischen Agrarrevolution, der Erfindung der gezielten Nahrungsmittelproduktion durch Pflanzenbau und Viehzucht.
Von der Grünen zur Silbernen Revolution
Seit Jahrtausenden ist das Überleben der Menschen untrennbar mit der Landwirtschaft und den natürlichen Ökosystemen, die sie unterstützen, verbunden. Seit den Anfängen der Landwirtschaft verlassen wir uns auf die Fotosynthese, das Sonnenlicht, den Boden und das Wasser, um die Nahrung anzubauen, die uns am Leben erhält. Diese Abhängigkeit von der Natur, von der sich auch die Grüne Revolution im 20. Jahrhundert trotz massiver technischer Innovationen nicht befreien konnte, hat zu einem System der Nahrungsmittelproduktion geführt, das sowohl ressourcenintensiv als auch stark von volatilen Wetter- und Klimafaktoren sowie geopolitischen Bedingungen abhängig ist und langsam an seine Grenzen stößt.
Denn wir haben „Peak Agricultural Land“ erreicht, das bedeutet, die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen lassen sich nicht mehr erweitern. Im Gegenteil: Der Klimawandel und der zunehmende Landverbrauch durch eine weiter wachsende Weltbevölkerung wird die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen in Zukunft wieder verringern.
Zwar können die Erträge pro Hektar Ackerland durch weitere technische Optimierung und neue Sortenzüchtungen auch in Zukunft gesteigert werden, es ist aber ein Prozess, der nicht endlos vorangetrieben werden kann. Auch „Peak Yield“ wird – selbst mit verbesserten landwirtschaftlichen Praktiken – bald erreicht sein. Zudem wächst das Bewusstsein für die damit verbundenen Gesundheits- und Umweltkosten, die laut einer Studie der Food System Economics Commission mittlerweile weitaus höher sind als ihr Beitrag zum globalen Wohlstand.
“The electric light did not come from the continuous improvement of candles”
(Oren Harari)
Um in Zukunft sowohl die ausreichende Ernährung der Welt zu gewährleisten als auch die Umwelt- und Gesundheitskosten zu senken, müssen wir es wagen, „das Andere“ zu denken. Vielleicht sogar das extrem Andere: Eine „Silberne Revolution“, wie Tilo Hühn, Professor an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, dieses Andere nennt, das uns aus der Abhängigkeit von der Natur (wie wir sie bislang verstehen) befreien könnte.
Was wäre, wenn wir uns erlauben würden, größer und systemischer zu denken? Wenn wir Zukunft nicht mehr nur als optimierte Gegenwart begreifen würden? Wenn wir also Lebensmittel ohne Sonnenlicht, ohne riesige Landstriche und sogar ohne traditionelle Nutzpflanzen produzieren könnten? Wenn wir nicht nur die Fotosynthese, sondern auch die Metasynthese zur Produktion von Nahrungsmitteln nutzen würden?
Von der Fotosynthese zur Metasynthese
Was ist Metasynthese? Sie ist, so Tilo Hühn in einem Beitrag im Journal der TKS TeknoScienze Publisher, ein Verfahren, „das die traditionellen biologischen Systeme der Lebensmittelproduktion umgeht und es uns ermöglicht, Lebensmittel auf völlig neue Weise herzustellen. Durch Technologien wie die CO2-basierte Proteinproduktion, die Präzisionsfermentation und die Nutzung mikrobieller Prozesse bietet die Metasynthese einen Einblick in eine Zukunft, in der Lebensmittel synthetisiert statt angebaut werden.“ Unternehmen wie Solar Foods demonstrieren bereits die Realisierbarkeit dieser Technologien und versprechen, nicht nur den ökologischen Fußabdruck der Lebensmittelproduktion zu verringern, sondern auch die Widerstandsfähigkeit unserer Ernährungssysteme gegenüber dem Klimawandel zu erhöhen.
Durch die Verlagerung eines Teils der Lebensmittelproduktion in kontrollierte Umgebungen wie Bioreaktoren ermöglicht die Metasynthese auch natürlichen Biotopen (Wiesen, Wäldern und Feuchtgebieten) wieder mehr Raum zu geben und zur Erholung der Biodiversität beizutragen. Gleichzeitig bedeutet die Entkopplung der Lebensmittelproduktion von traditionellen landwirtschaftlichen Systemen die Möglichkeit, Lebensmittel in kontrollierten Umgebungen zu produzieren (Vertical Farming, Aquaponic, Bioreaktoren), sodass die Lebensmittelproduktion zum Teil auch in städtischen Gebieten oder an Orten, an denen Landwirtschaft nicht oder nur sehr aufwendig möglich ist, stattfinden könnte.
Auf dem Spielplan: Zukunftsmusik
Die Zukunft der Ernährung ist im großen Maßstab noch Zukunftsmusik. Die Technologien stecken noch in den Kinderschuhen, und ob sie so weit ausgebaut werden können, dass sie einen wesentlichen Beitrag zur globalen Ernährung leisten können, muss sich erst erweisen. Nicht heute und nicht morgen, sondern wahrscheinlich erst übermorgen. Und natürlich bedeutet ein solches Szenario in Zukunft nicht das Ende der Landwirtschaft, sondern eine adaptierte Landwirtschaft, die mit der zellulären Lebensmittelproduktion neue, produktive Verbindungen eingeht, sich im Ineinandergreifen von traditionellen und alternativen Methoden in ein neues Ernährungssystem integriert.
Die Metasynthese hat das Potenzial, den Druck aus der Landwirtschaft zu nehmen, immer mehr, schneller und billiger produzieren zu müssen. Sie eröffnet den Bauern à la longue wieder die Möglichkeit, mehr auf Qualität als auf Quantität zu fokussieren und mit regenerativen Methoden einen wesentlichen Beitrag zu Klima- und Artenschutz beizutragen sowie die damit einhergehende, gesteigerte Wertschätzung ihrer Arbeit durch bessere Wertschöpfung belohnt zu sehen.
„Nur wenn wir Innovationen als ganzheitlichen, systemischen Hebel verstehen und anwenden, können sie langfristige strukturelle Veränderungen hin zu mehr Nachhaltigkeit und Resilienz im ganzen Food-System anstoßen.“ (Hanni Rützler)
Noch ist es nicht so weit. Große systemische Veränderungen dauern immer länger. Das gilt für die Ernährungswende genauso wie für die Energie- und Mobilitätswende. Nicht nur für Individuen, auch für Unternehmen, Organisationen, soziale und ökonomische Systeme sind Veränderungen nicht leicht. Auf allen diesen Ebenen gibt es dominante Systeme mit starken Beharrungskräften, die Wirtschaft und Kultur bestimmen, aber parallel stellen neu entstehende Systeme und Entwicklungen mit disruptiven Innovationen die dominanten Systeme infrage.
Die Wellen der Transformation
Das vom amerikanischen Berkana-Institut entwickelte „2 Loops of Change“-Modell hilft zu verstehen, wie ein bestehendes, lange Zeit funktionierendes und erfolgreiches System, das – wie unser auf traditioneller Landwirtschaft basierendes Ernährungssystem – sein maximales Entwicklungsstadium erreicht hat, in neue Stadien übergeht. Am Höhepunkt angekommen (Peak Agricultural Land, Peak Yield) gerät es in die Krise (Bodendegeneration, Entwaldung, steigende Ertragsausfälle durch Klimakapriolen, steigende Versicherungskosten, Ressourcenverbrauch) und wird durch ein neues System abgelöst beziehungsweise nachhaltig verändert.
Das Modell ist inspiriert von organischen Systemen, die von Wachstum und Zerfall geprägt sind, in denen Veränderungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Es hilft uns, auf beide Aspekte des Wandels zu schauen. Es zeigt die Kraft des Bestehenden und zugleich, wie intensiv Pioniere und Change Maker an den Rändern des alten Regimes arbeiten, um den Wandel voranzutreiben, und wie sie die Transition so zu einem neuen System – vergleichbar einer evolutionären Entwicklung – Schritt für Schritt gehen.
„New Food System bedeutet nicht das Ende der Landwirtschaft, sondern eine an ein verändertes Umfeld adaptierte Landwirtschaft, die mit der zellulären
Lebensmittelproduktion neue, produktive Verbindungen eingeht.“ (Hanni Rützler)
Im komplexen System der Ernährung gibt es keine Tabula rasa. Wir haben es nicht nur mit unterschiedlichen Konsumentengruppen zu tun, die in jeweils ganz bestimmte Esskulturen hineingewachsen sind, Vorlieben und Gewohnheiten entwickelt haben, von denen sie sich nicht so leicht verabschieden wollen und können, sondern immer auch mit einer Menge involvierter Stakeholder, die die Ressourcen und die Expertise haben: Menschen, die – oft über mehrere Generationen – ihr Leben lang daran gearbeitet haben, das existierende System und dessen
Strukturen und Prozesse aufzubauen.
Diese sehen in der Entwicklung alternativer Systeme zunächst mehr eine Bedrohung als eine Lösung. Zugleich ist es wichtig, erarbeitetes Know-how und vorhandene Ressourcen eines alten Systems ins neue zu transferieren. Kurz: Ein Systemwechsel kann nur schrittweise erfolgen. Es müssen Strukturen entwickelt und Prozesse aufgesetzt werden, die den Wandel ermöglichen, das heißt, das Neue unterstützen, die Verluste, die den Stakeholdern des alten Systems entstehen, minimieren, indem man ihnen Perspektiven aufzeigt, die ihnen neue Systeme bieten.
On the Way to a New Food System
Das steht auch beim Wandel des Ernährungssystems in den nächsten Jahrzehnten an: Förderung für einen Umbau der Landwirtschaft, Investitionen in Forschung und Entwicklung, innovationsfreundliche gesetzliche Änderungen bei Novel Foods, wie sie auf europäischer Ebene schrittweise auf die Reihe gebracht werden, damit Europa auf dem Ernährungssektor nicht wie bei der E-Mobilität und der Sonnenenergienutzung von chinesischen Unternehmen abgehängt wird. Deutschland, daran sei erinnert, war anfangs Weltmarktführer bei Solarmodulen, ehe es diese Technologie anderen überlassen hat. Noch ist Deutschland auf dem Sektor alternativer Proteine – vor allem bei pflanzenbasierten Proteinquellen und der Herstellung von entsprechenden Produktionsanlagen – einer der Vorreiter.
Auch bei Cell Cultured Meat gibt es europäische Pioniere. Wir haben, „wenn die Unternehmen, die Politik, NGOs, Verbände und die Wissenschaft gemeinsam weiter Gas geben“, so Godo Röben, „eine große Chance, am Ende der Ernährungswende ganz vorne dabei zu sein. Wir wollen doch nicht wieder, wie bei der digitalen Wende, in der Firmen wie Facebook, Apple, Microsoft, Google und Co. gegründet wurden, am Ende in Deutschland wie bei AEG, Telefunken und Nordmende dastehen.“
Forming Communities of Practice, Promotion and Grow of Influence
Das gelingt nur, wenn wir Ernährung als Raum für kreatives Handeln und Gestaltung betrachten und mutige Akteure, die sich den Herausforderungen der aktiven Zukunftsgestaltung stellen, unterstützen, wenn sich unternehmensübergreifende Arbeitsgemeinschaften bilden, um Forschungs- und Entwicklungssynergien zu nutzen, auch um mehr Akzeptanz und Einfluss auf Politik und Gesellschaft zu gewinnen.
„Auf dem Weg zu einer Welt, in der die zelluläre Landwirtschaft eine größere Rolle in der Lebensmittelproduktion spielt“, davon ist Tilo Hühn überzeugt, „wird es von entscheidender Bedeutung sein, sicherzustellen, dass die Vorteile dieser Technologien gerecht verteilt werden. Dies erfordert eine durchdachte Regulierung, öffentliches Engagement und die Verpflichtung, diese Innovationen für alle zugänglich zu machen.
Einen Weg, den auch ein neues internationales Konsortium bestehend aus RESPECTfarms, Wageningen University & Research, Mosa Meat, Aleph Farms, Multus, Kipster und Royal Kuijpers, eingeschlagen hat, um die Integration von kultiviertem Fleisch in bestehende landwirtschaftliche Betriebe zu ermöglichen und die Produktion lokal zu verankern. Das Konsortium plant die weltweit erste Farm für kultiviertes Fleisch in den Niederlanden zu errichten und will damit zeigen, dass die zelluläre Landwirtschaft auch für die traditionelle Landwirtschaft eine Chance und keine Bedrohung darstellt.
Agenda
Zukunftstalk Ernährung
Konferenz "Towards New Food Systems", Berlin (D) - Hanni Rützler im Dialog mit Hannelore Daniel
„Food Context PIlot – Die fabelhafte Welt des Knödels“
Soil to Soul - Zürich (CH) - Exklusive Präsentation & Talk von und zu Hanni Rützlers neuem Report
Gesund, wirtschaftlich, nachhaltig? Geflügel „Made in Germany“ im Fokus
Landwirtschaft im Dialog, Auditorium Berlin (D) - PODIUMSDISKUSSION mit Hanni Rützler, Silvia Breher, Hans-Peter Goldnick u.a.
„Kommunikationsaufgabe Zukunft – Ein Ausflug in die fabelhafte Welt der Knödel“
29. Heidelberger Ernährungsforum - Conference Center der Dr. Rainer Wild-Holding), Heidelberg (D) - PRÄSENTATION von Hanni Rützlers FOOD CONTEXT PILOT
Bitter schön! Die kulinarische Karriere des 5. Geschmacks
Kammermeierei der HBLFA Schönbrunn, Wien (A) - Schönbrunner Seminare: Endivie, Radicchio & Co - Die Vielfalt der Zichorien